Reformpädagogik in der frühkindlichen Erziehung

Wir beobachten heute in der frühkindlichen Erziehung, wie sich eine neue Welle der Reformpädagogik vorbereitet. Nur in der frühkindlichen Erziehung, wohlgemerkt. Hingegen erweist sich das gesamte Schulsystem von der Grundschule an jedweder pädagogischer Erwägung gegenüber als weitgehend immun, dürfte auch in seiner Gesamheit nicht reformierbar sein, zumal Reformkräfte fehlen.

Doch sind auch die in der frühkindlichen Bildung Tätigen ratlos. Zunächst wird derzeit häufig an ältere Strömungen freiheitlicher oder behutsamer frühkindlicher Erziehung oder selbstbestimmten Lernens angeknüpft (Maria Montessori, Marte Meo). Hingegen ist die ältere Reformpädagogik durch ihre Verstrickung mit dem Aberglauben bzw. dem sexuellen Kindesmissbrauch diskreditiert (Waldorfschulen, Odenwaldschule), und so liegen auch ihre emanzipatorischen Impulse derzeit brach.

Verantwortungsbewusste frühkindliche Erzieherinnen (bzw. Einrichtungsleitungen), aber auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Umfeld nicht nur von Kindertagesstätten und Schulen, sondern auch der Kinder- und Jugendhilfe sind mit dem allgemein verbreiteten System unzufrieden und setzen auf die althergebrachten Reformströmungen, entwickeln jedoch noch keine eigenen. Dazu fehlt ihnen die Ausbildung und die soziale Fantasie.

 

Ein Drittel hochgezüchtete Arbeitskräfte

In Wirklichkeit wird die nächste Welle der Reformpädagogik nicht von pädagogischen oder psychologischen Idealen wie einem selbstbestimmten Lernen oder gar einer selbstbestimmten Kindheit ausgehen, sondern von neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und kognitiver Fähigkeiten. Es geht also nicht darum, dass es den Kindern gut geht, sondern es geht darum, sie kindgerecht abzurichten – immerhin kindgerecht.

Ihrem Wesen nach erwächst die Reformbewegung nicht aus gutem Willen, besser mit unseren Kindern umzugehen, sondern ist im Sinne der Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit historisch erforderlich. Die Reformströmung wird also auch diesmal nicht alle Kinder erfassen, sondern nur eine sittliche Elite, die dem kapitalistischen Weltsystem treu ergeben, allerdings etwas breiter aufgestellt als in den 1920/30er oder 1970/80er Jahren.

Weiße, bürgerliche Kinder werden eine eher freiheitliche, reichhaltige oder sogar erfüllende Erziehung erfahren, Kinder aus geringeren Schichten oder schlechteren Gegenden, gerade auch mit Migrationshintergrund hingegen keinerlei entwicklungsfördernde Erziehung mehr, sondern lediglich eine für die Berufsausübung erforderliche Abrichtung.

Es wäre ein Missverständnis, zu glauben, dass im Zentrum des kapitalistischen Weltsystems eine breite Masse von geistig und seelisch hochentwickelten Arbeitskräften benötigt wird. Dieser Eindruck kommt nur auf, weil der letzte Funken Intelligenz und Talent aus der breiten Masse der Bevölkerung herausgekratzt wird, aber so wird genug geschürft.

 

Autoritäre Reformpädagogik

Dabei ist eine neue Reformpädagogik derzeit nirgendwo in Sicht, jedenfalls nicht in freiheitlicher Absicht für das bessere Drittel. Ganz im Gegenteil denken populäre Erziehungskritiker in Deutschland heute autoritär-leistungsorientiert, nicht freiheitlich. Auch im inklusiven Unterricht geht es nicht um Selbstverwirklichung der Kinder, sondern um Absenkung der Standards auf das niedrigste noch funktionale Niveau (bzw. Abschaffung von Unterricht).

Es wird also erst die Unterschiene eingezogen, solange die kommende Qualifikationskrise oben noch nicht akut ist. Außerdem ist ein Rückgriff auf althergebrachte Vorstellungen der ‹schwarzen Pädagogik› und des neoliberalen Vertrags- und Effizienzdenkens auch intellektuell viel einfacher – nicht nur für die Vordenker, sondern auch für die im Erziehungs- und Sozialwesen Beschäftigten.

 

Kindertagesstätten in freier Trägerschaft

Zwar denken viele jüngere Erzieherinnen, aber auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter über eine andere Pädagogik nach, doch fehlt ihnen jeglicher Sachverstand, zudem jeder intellektuelle Mut, um sie zu entwickeln. Der Ausgangspunkt der Reformbewegung wird daher eine freie Trägerschaft sein, denn sich aus den Fängen des staatlichen, kirchlichen oder freien Erziehungs- und Sozialwesens zu lösen und selbst Verantwortung zu übernehmen, ist ein einfacher und realistischer erster Schritt.

Erzieherinnen und Leiterinnen sind mit den verlogenen Vorgaben der Träger unzufrieden, wollen den Kindern besser gerecht werden, sie besser schützen und auch die Eltern stärker in die Arbeit mit einbeziehen – nur sind das dann weiße Kinder aus gebildeten Haushalten, denn so eine Bewegung wird andere Familien nicht erreichen (will es vermutlich auch gar nicht). Systemoppositionelle lachen hierüber, aber es wird einigen Kindern und einigen Familien helfen, und das ist auch gut so.

Reformkindergärten und ‑schulen werden freie private Träger oder Genossenschaften sein; Eltern und Erziehungspersonal werden sich als Verantwortungsgemeinschaft verstehen; in diesen Kreis kommt nur hinein, wer dem Anspruch gerecht werden kann. Es gibt nicht einmal eine Betragsschranke. Private Einrichtungen sind nicht teurer als öffentliche Einrichtungen. Nur werden sich schwächere Kreise der Bevölkerung dem Ziel, dass ihre Kinder in der globalen Ordnung eine Rolle spielen, einfach nicht verschreiben.

Zugleich werden religiöse oder sektiererische Strömungen im Erziehungs- und Sozialwesen erstarken – diesmal in allen Religionen, nicht nur in den christlichen Kirchen. Die gesellschaftliche Elite wird also in 20 Jahren einen starken Einschlag von religiösem Fundamentalismus aufweisen.

Eine neue Epoche der Reformpädagogik bedeutet also beileibe nicht gemeinsames Vorankommen aller Kinder, wie ihre Befürworterinnen glauben, sondern Vertiefung der Wohlstands- und Bildungsspaltung, Rassifizierung der Klassen- und Sittenspaltung, unversöhnliche Scheidung von reaktionären und fortschrittlichen Strömungen, insgesamt eine Annäherung an das US-Modell und eine Abkehr vom europäischen Modell.

 

Entwicklungspsychologie und kindgerechte Pädagogik

Eine zukünftige Reformpädagogik wird sich am Eigensinn der Kinder orientieren, nicht im Sinne freier Entfaltung und Zeitgestaltung wie in der Tradition von Summerhill oder der Ideale der Odenwaldschule, sondern im Sinne eines Aufgreifens der Entwicklungspsychologie. Man wird Kindern nicht abstrakte Lernziele vorgeben, sondern sich nach ihren Auffassungsmöglichkeiten richten, ihnen die Welt und den Stoff wirklich kindgerecht, zugleich erfolgs-, verständnis- und glücksorientiert vermitteln und so ganz erstaunliche Lernfortschritte erzielen – in der autoritären Pädagogik undenkbar.

Dennoch wird Erziehung und Bildung hier rein instrumentell im Sinne der Kapitalverwertung der Eingliederung in die staatliche Ordnung verstanden, und wenn von einer ‹kindgerechten Erziehung› die Rede ist, ist das wohl eher im Sinne von ‹artgerechter Tierhaltung› zu verstehen, nicht etwa humanistisch. Das selbstbestimmte seelische und geistige Aufblühen des Kindes gem. Anlagen und Neigungen wird nirgendwo als Wert an sich betrachtet, auch nicht unter vermeintlich menschenfreundlichen Reformpädagoginnen. Dass wir unsere Kinder zu Baumeistern einer besseren Welt erziehen könnten, gilt ohnehin als Verrat. Haben wir nicht alle gelitten?

Dennoch steht im Selbstbewusstsein und Selbstverständnis des Kindes und zukünftigen Erwachsenen auch in einer neueren, freieren Erziehung zwar nicht die individuelle Selbstbestimmung oder die ihr zugrundeliegende Willensfreiheit, aber immerhin die eigene Aufnahmefähigkeit im Mittelpunkt, so dass gesellschaftliche Verantwortung einfacher, bruchlos und klaglos übernommen wird. Diese birgt vielleicht sogar eine Chance, dem Kindeswohl in den Erziehungs- und Sozialeinrichtungen mehr Nachachtung zu verschaffen.

 

Emotion, Identifikation, Intelligenz als Schlüsselqualifikationen

Die am eigenen Maß geschulten Menschen in den besseren Kreisen werden nicht nur ihr Leben fester im Griff haben, sondern eine neue gesellschaftliche Realität schaffen, weil sie geistig in einer neuen Realität leben. Sie werden Deutschlands Spitzenplatz in der Welt halten und ausbauen und das Gesundheitssystem weniger belasten als vorherige Elitegenerationen.

Es wird in ihrem Leben nicht mehr um langjährige monotone Pflichterfüllung gehen – immergleiche Handgriffe und geistige Verrichtungen –, sondern man geht mit mehr Bewusstsein und Gefühl an das eigene Leben heran – im Beruf, in der Gesellschaft, in der Familie. Nur so kann nicht nur Deutschland als Staat seinen Platz im Zentrum des kapitalistischen Weltsystems behaupten, nur so kann vor allem die sogenannte, heute vom sozialen Absiteg bedrohte Mittelschicht ihren Lebensstandard aufrechterhalten.

Diese Mittelschicht muss umlernen, der Produktivkraftentwicklung der gesellschaftlichen Arbeit folgen. Der Kern der Wertschöpfung in der Metropole verschiebt sich von der reinen Hervorbringung von Artefakten durch Verausgaben von Arbeitskraft auf Emotionen, Identifikation und Intelligenz. Nur deswegen ist eine neue Welle der Reformpädagogik erforderlich. Die heutige Generation der Berufstätigen ist diesen neuen Anforderungen nicht gewachsen, kann auch nicht fortgebildet werden.

Doch nur die Diener des Zentrums – ein Drittel der Bevölkerung – benötigen eine neue freiheitliche Erziehung; alle anderen – auch in sozial absinkenden symbolanalytischen Berufen – benötigen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in den eigenen Dienstleistungen nicht und bekommen sie daher auch nicht vermittelt, würden nur unerfüllbare Ansprüche stellen, wollten vielleicht sogar die Gesellschaft verändern.

Armuts- und Reichtumsberichten der Bundsregierung zufolge hat sich das Erwerbseinkommen in bisher als aussichtsreich eingeschätzten ‹studierten Berufen› in den letzten 15 Jahren merklich dem Median-Einkommen genähert, und die Arbeitszufriedenheit dieses Berufssegments ist messbar gesunken. Sie sind nichts Besonderes mehr, und sie finden sich auch nicht mehr gut; sie werden nun in das Weisungsgefüge eingebunden.

 

Chancen der Reformpädagogik in Deutschland

In Deutschland wollen Eltern nicht, dass ihre Kinder ihnen überlegen sind. Bis weit in bürgerliche Kreise hinein hassen die Deutschen Intelligenz und Brillanz, glauben, dass ihre Kinder dann auf ihre Eltern herabblicken. Sie sind selbst so liebeleer, wohl auch schlichtweg missgünstig, dass sie sich nicht vorstellen können, dass man einen Menschen liebt, dessen intellektuelle Fähigkeiten man geringschätzt.

Es liegt keineswegs an den traumatischen Erfahrungen von mindestens fünf aufeinanderfolgenden Generationen in Deutschland, denn so ist die Geschichte auch in anderen Ländern verlaufen. Es ist tatsächlich eine Eigenschaft des deutschen Volkscharakters als äußerstes westliches Bollwerk Zentralasiens.

In diesem Wertehorizont wollen Eltern ihre Kinder besitzen, nicht freilassen. Sie wollen, dass ihre Kinder zu vollgültigen Mitgliedern der Gemeinschaft werden, aber nicht sich selbst bestimmen; gewissermaßen Replikate ihrer Eltern, die nach deren Tod möglichst unverwechselbar ihren Platz einnehmen.

Auch die Reformpädagogik steht in diesem Wertehorizont und plant auch nicht, ihn zu überschreiten. Sie wird Kinder unterstützen, ihre Fähigkeiten schneller und weiter auszubauen, als eine autoritäre Pädagogik es könnte oder auch nur anstrebt. Sie wird aber keine Spitzenleistungen anstreben, Ausschläge (Italienisch lernen, mit den polnischen Freunden Polnisch sprechen) verhindern.

In einem leistungsorientierten Land wie Deutschland, das der Gesamtschule zutiefst ablehnend gegenübersteht, ist schon immer eine Mehrzahl der befragten Eltern für eine sechsklassige Grundschule nach dänischem Vorbild. Den Befragten ist stets bewusst, dass die Kinder dann weniger lernen, ihnen ist aber das längere gemeinsame Lernen und der Erwerb von Sozialverhalten wichtiger.

Es ist die typisch deutsche national-sozialistische Mentalität: in erster Linie müssen sich die Kinder benehmen können, denn was sollen sonst die Nachbarn denken? Im nationalen Sozialismus sind alle dumm; das ist unser Volksheim. Besser also, die eigenen Kinder ragen nicht heraus – selbst wenn wir es ihnen gönnen würden. Die Deutschen mögen es aber nicht, zumindest die meisten nicht. Sie wittern dann einen jüdischen Einschlag von Wurzellosigkeit und Kosmopolitismus.

 

Reformpädagogik in der frühkindlichen Erziehung

Die nächste reformpädagogische Bewegung wird von den Kindergärten ausgehen. Soviel ist bereits heute erkennbar. Hier sind die Schwierigkeiten der gesellschaftlichen Integration in Deutschland derzeit tatsächlich am deutlichsten spürbar.

Die Einrichtungen sind aber nicht – wie bald darauf die Grundschulen – streng an Lernziele gebunden, können also freier experimentieren und dürfen sich schlichtweg den einzelnen Kindern zuwenden, wenn sie wollen.

Zudem ist die flächendeckende Ausbreitung von Kindertagesstätten und Familienhebammen gerade erst im Entstehen begriffen, und entsprechend sind auch die pädagogischen und organisatorischen Grundsätze noch im Fluss, gerade auch in der Hinsicht, wie weit der öffentliche Erziehungsapparat in das Familienleben eingreifen darf, ja, muss.

 

Reformschulen und Projektschulen

Die Schulen hingegen sind in starren Lehrplänen und in einem festen staatlichen System befangen; zudem versinkt die Schulpädagogik im Chaos, ohne dass irgendwelche Rettungsversuche auch nur erkennbar wären. Das Schulsystem ist nicht reformierbar, es ist kein entsprechender politischer Wille erkennbar; an der Basis der Lehrkräfte herrscht Gleichgültigkeit dem eigenen Berufsumfeld gegenüber vor.

Die Reformbewegung wird also – da sie nicht nur Kindergärten, sondern auch Schulen braucht – eigene Schulen gründen. Die von ihr Erfassten werden sich dadurch als Schicht noch weiter abschließen; ein geschlossenes soziales und bildungspolitisches Milieu. In so einem System gehen ja nicht einige wenige auf elitäre Privatschulen, sondern mehr und mehr der gesamte gesellschaftliche Leistungskörper.

Die Rassen- und Klassenschranke wird sich verfestigen und unübersteigbar werden. Kindesmisshandlungen und sexueller Kindesmissbrauch werden unverändert fortbestehen, denn aus der Klassenperspektive des abstiegsbedrohten Bildungsbürgertums sind solche Kinder für das gesellschaftliche Wohlergehen nicht erforderlich, haben es aus dieser Sicht wohl auch nicht besser verdient.

 

Berufsausbildung in der Reformpädagogik

Das reformpädagogische Personal wird in den eigenen Erziehungs- und Sozialeinrichtungen ausgebildet werden, nicht an den Fachhochschulen oder Hochschulen. Die heutigen Pädagogischen Hochschulen werden keine neue Generation von Erzieherinnen und Erziehern bevorbringen, erstarren ganz im Gegenteil mehr und mehr in immer enger zugeschnittenen Lehrplänen.

In den Studiengängen in der frühkindlichen Erziehung oder in der sozialen Arbeit herrscht geisttötende Monotonie; die eigentlich pädagogischen oder sozialen Problembereiche werden erst gar nicht behandelt. (Gleichwohl werden die Absolventinnen und Absolventen dann dort eingesetzt.)

Grundsätzlich wird Studentinnen und Studenten gerade in diesen – ohnehin kaum als wissenschaftlich zu betrachtenden – Studiengängen eingehämmert, auf keinen Fall selbst zu denken; eigene Vorstellungen – gerade humane Vorstellungen – sind wertlos und haben in der Berufspraxis nichts zu suchen. Der Verlag Angelika Gontadse möchte eine Diskussionsplattform gegen diese Denkverbote errichten und kann so als kollektiver Organisator für die in der Formierung begriffene Bewegung dienen.

 

Eigene pädagogischen Ideale

Aber für welche Pädagogik steht der Verlag Angelika Gontadse? Mein pädagogisches Ideal unter Erwachsenen ist es, Talenten Literatur beizubringen. Sie haben eine Sprachbegabung, doch Literatur transzendiert sie – ein außerhalb der jeweils nur kleinen historischen Gruppe der Autorinnen und Autoren bestehendes Formcorpus, heute weitgehend vergessen. Doch ich habe ein Gefühl dafür und verstehe das Handwerk der Sprache, aber auch – wenn auch nur unvollkommen – die Mechanik der Psychologie in einer Romanhandlung, überhaupt jeder menschlichen Situation.

Meiner Meinung ist dies alles regelhaft lehrbar wie eine Berufsausbildung oder wie ein Studium. Allerdings gibt es nicht nur ein einheitliches Gewerk ‹Sprache & Literatur›; dies ist vielmehr nur der Werkstoff (vergleichbar Holz, Metall oder Stein). Die Gewerke sind Textverstehen, Text verfassen, Text ausarbeiten und ergänzen, Text verfeinern, Lektorat, Korrektorat; sie erfordern unterschiedliche Fähigkeiten.

Wer nicht schreiben oder nicht einmal erzählen kann, wird es vermutlich auch nicht beigebracht bekommen können. Jedoch lassen sich Texte jederzeit verbessern und verfeinern, und daraus können deren Verfasserinnen und Verfasser lernen. Es ist jedoch kein kühles Texthandwerk wie in der Werbebranche oder im Büro oder Recht; man muss etwas zu sagen haben und man muss etwas zum Ausdruck bringen wollen.

Wer den Drang dazu verspürt, kann es zweifellos lernen und wird mit den Jahren immer besser darin. Es ist aber nicht nur Texthandwerk, sondern auch ein bestimmtes Auftreten und Lebensverständnis. Ich müsste Leuten beibringen, sich selbst zu verausgaben und sich selbst in der Öffentlichkeit auszustellen – Blut, Fleisch, Leben, Liebe und Hass. Die Veranlagung und die Neigung dazu müssen sie mitbringen.

Danach geht es nur noch darum, die Kompositionsregeln der Literatur zu lernen, dann aber abzulehnen und niemals zu benutzen. Sonst kommen Männerromane dabei heraus – hin und wieder nett, aber immer konstruiert und damit nicht authentisch. In der Musik funktioniert das, warum dann nicht in der Literatur? In der Musik kommen sogar ganz passable, bestenfalls langweilige Komponisten oder Instrumentalisten aus dem Studium, aber niemals schlechte.

 

Habe Mut, dich des eigenen Verstandes zu bedienen

In meinen sachlichen, politischen oder wissenschaftlichen Gesprächen möchte ich meinen Gesprächspartnerinnen vor allem den unverstellten Blick auf das Gegebene, mit dem sie täglich zu tun haben, zurückgeben und sie im Laufe des Gesprächs durch ein Propädeutikum der Logik führen. Sie haben eine autoritäre, stark von Aberglauben geprägte Erziehung genossen und trauen sich eigenständiges Denken nicht zu, beherrschen auch dessen Regeln nicht.

Daher genügt eine soziologische oder ideologische Analyse einer Normalwissenschaft als von herrschenden Interessen gesteuert und durchtränkt nicht, um den ihr Unterworfenen einen Ausweg in die Aufklärung und in die Befreiung aufzuzeigen. Sie halten das für eine Unverschämtheit. So ist es ihnen beigebracht worden, und so halten sie auch selbst den aufmüpfigen Nachwuchs an der Kandare.

Die Normalwissenschaft setzt alles daran, ihren Trägern das eigenständige Denken abzugewöhnen, nicht nur die Tatsache, auch die dazu erforderliche Methodik. Dies geschieht nicht aus bösem Willen, sondern liegt in ihrer Natur als gesellschaftlicher Apparat mit maschinengleich reproduzierbaren Forschungs-, Steuerungs und Erziehungsergebnissen. Daher bekommen Studentinnen und Studenten mit methodischer Strenge jedwede eigene Überlegungen ausgetrieben, sollen vorgegebene, möglichst flache Literatur wiederkäuen.

Bei den Studentinnen ist dieser Denkschaden und sind daher seine beruflichen Auswirkungen etwas stärker ausgesprägt als bei den Studenten, denn sie unterwerfen sich lieber, studieren zudem selten Fächer, in denen es beruflich später auf Durchsetzungsvermögen oder auf sachangemessene Lösungsvorschläge ankommt, sondern eher dienende Fächer ohne echte wissenschaftliche Erkenntnisse.

 

Gemeinsam nachdenken, gemeinsam lernen

Ich möchte meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, Autorinnen und Autoren ermuntern, ihre eigenen – literarischen, wissenschaftlichen oder politischen – Auffassungen zu formulieren und zu durchdenken, möchte ihnen das erforderliche literarische und/oder erkenntnistheoretische Handwerkszeug an die Hand geben. Das denkwerkzeugliche Proseminar lässt sich in wenigen Stunden Videokonferenz zusammenfassen, doch danach kommt es auf die kontinuierliche Übung und Schärfung an.

Der Verlag Angelika Gontadse wird regelmäßig Kolloquisien – nachdenkliche Videokonferenzen im kleinen Kreise – in der Tradition von Oberseminaren unter Fortgeschrittenen oder jungen Forschern anbieten und dort mit einer Handvoll Gleichgesinnter gemeinsamen nachdenken. Sie können ihre Gedanken heute nicht allgemein verständlich ausdrücken, denn dann würden sie sie ja veröffentlichen, hüten sie zugleich eifersüchtig, als wären es wertvolle Geschäftsgeheimnisse. Dabei gehört die Zukunft kollektiven Produktionsformen, wie wir sie aus der Welt der Ingenieure und Programmierer schon lange kennen.

 

Sittliche Reife und Selbstvervollkommnung

Die gegen solche heute angesagten Formen gemeinsamen Nachdenkens und Arbeitens in der breiten Fläche der Halbgebildeten noch immer bestehenden Blockaden lassen sich sich nur auflösen, wenn wir miteinander reden, miteinander auskommen und Vorurteile in Frage stellen. Auch die intellektuelle Charakterbildung unter Erwachsenen ist also ein Zug der Reformpädagogik (und bevor diese nicht greift, kann es streng genommen keine reformpädagogischen Ausbildungsberufe oder Studiengänge geben).

In einer freiheitlichen Gesellschaft unter der Bedingung sich verallgemeinernder Intelligenzeigenschaften sollen Menschen ihre eigenen Handlungs- und Erkenntnisziele selbstbewusst verfolgen und sich dabei durch Selbstkritik veredeln und zu höherem Streben befähigen, auch zu einer besseren und offeneren Zusammenarbeit mit allen anderen Gutwilligen. Solche Menschen werden sich stets an der Wahrheit ausrichten – zunächst der eigenen Wahrnehmung, auch wenn das Vorfindliche nicht in das amtlich vorgegebene Interpretationsschema der Kapitalverwertung und deren Staat passt.

 

Selbstbestimmtes Lernen ist lebenslanges Lernen und entsprechendes Handeln

Alle Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sollten in jeder Interaktion stets etwas dazulernen. Wir müssen in jedem Gespräch und in jedem gemeinsamen Arbeitsschritt etwas mehr über Wissenschaft, etwas mehr über Politik, etwas mehr über Wahrheit lernen und selbst umsetzen, uns nicht immer wieder nur wiederholen und gegenseitig in unseren Überzeugungen und Vorurteilen bestätigen.

Doch müssen Teilnehmerinnen und Teilnehmer wirklich verstehen, was sie im nächsten Schritt verstehen müssen – nur ohne Transferleistung oder Empathie oder Bildungsorientierung. Das ist ihnen allen fremd, und sie werden es auch nicht lernen; es sind sittliche, keine pädagogischen Größen. Es muss auch einen anderen, direkten Weg geben, zu ihnen durchzudringen und sie nach und nach intellektuell, aber auch sittlich höher zu entwickeln. Hier schlägt der Verlag Agenlika Gontadse eine methodische Bresche in überlebte Grundannahmen der Pädagogik.

Doch ist es nicht damit getan, dass ich meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner berühre, sie vielleicht sogar endlich einmal offen reden. Es bedeutet nichts, denn es ist nicht üblich, dass aus Erkenntnissen Handlungsempfehlungen folgen. Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner lernen nichts aus den aufblitzenden Erkenntnissen und Selbsterkenntnissen, organisieren sich nicht, noch entschließen sie sich zum gesellschaftlichen Wirken.

Ich möchte sie im Herzen berühren, nicht ihnen Auffassungen aufdrängen, sondern aussprechen, was sie in ihrem Herzen schon lange fühlen – nicht die Befreiung, wohlgemerkt, denn sie fürchten sie. Ihr Herz ist kein Teil von ihnen; was sie tief in ihrem Inneren wollen, ist ihnen fremd.

Zudem ist ihr heutiges Alltagsleben in Beruf und Familie so weit vom eigentlich Gebotenen – und sogar leicht erkennbar Gebotenen – entfernt, dass die Weiterentwicklung nur in mikroskopisch kleinen Schritte möglich ist. Die Ähnlichkeit mit Verhaltensänderungen nach schweren Traumata ist vermutlich nicht zufällig.

 

Natur der Reformpädagogik: Selbstentfaltung statt Schlüsselqualifkationen

Damit wird das Ziel der Reformpädagogik klarer. Sie erschöpft sich nicht in einer etwas anderen Didaktik, Dialektik oder Tagesgestaltung. Sie hat ein anderes Ziel als reine Kenntnisvermittlung, unterstellt, dass sich die instrumentellen Kenntnisse einem reifenden Geist von selbst erschließen – und zwar in der ihm gemäßen Reihenfolge. Dies war der Geist der alten Reformpädagogik in Summerhill oder in der Odenwaldschule.

Reformpädagogik geht es nicht um die Lehre von etwas im Leben praktisch Nützlichen. Daher war sie einst einer adligen oder bildungsbürgerlichen Elite vorbehalten und werden auch heute die weiterhin in einfachen Arbeiten Befangenen davon ausgeschlossen bleiben. Sie will Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern die Entwicklung der verborgenen, doch lange gefühlten eigenen Neigung erlauben und diese bilden, mag es auch nicht dem Wirtschaftsstandort dienen.

Die autoritäre Pädagogik bekämpft die Herzenswünsche der Schülerinnen und Schüler, gibt ihnen Ziele vor, um ihre Herzenswünsche zu sublimieren (oder brutal zu unterjochen). Erlauben wir den Menschen – jung oder alt –, was sie sein wollen, und fördern wir es! Sie werden ihren Weg weitgehend alleine finden oder sich alleine Hilfsmittel suchen.

Damit erledigt sich die Kontroverse, ob Menschen lernen können oder Freiheit anstreben, oder ob sie nicht lieber Arbeits- und Zuchtvieh mit Renten- und Krankenversicherung sein wollen. Die Verbitterung dieser Kontroversen zeigt ja, dass die Diskussion falsch angelegt ist, ihre Bitterkeit nur die zusätzliche Repression unterstützt.

 

Aufklärungsfähigkeit? Reformpädagogik fördert nicht alle, aber alle, die wollen

Lassen wir die Menschen frei, schärfen sie darin, was sie dafür können müssen und welche Verantwortung sie dann übernehmen! Wer die Menschen für dumm und böse hält, mag dies für aussichtslos halten. Doch ist es nie versucht worden. Alle Annahmen sind also reine Vermutungen und beruhen ausschließlich auf haltlosen Annahmen über die Natur des Menschen. Allein die elementare Logik lehrt, dass zumindest einige Menschen die Freiheit gerne annehmen und verantwortungsbewusst damit umgehen werden.

Nicht einmal die schnöden instrumentellen Lernergebnisse und Leistungskennziffern werden leiden. Würden wir diejenigen, mit denen wir zu tun haben, die etwas erreichen wollen und denen wir dabei helfen können, ernst nehmen, würden sie die gesellschaftliche Realität in ihrem Umfeld und darüber hinaus verändern, die soziale Gravitation neu definieren.

Natürlich betrifft dies wiederum nicht die breite Bevölkerung, sondern nur eine gewisse sittliche Elite mit einem Anspruch an sich selbst und die eigene Verantwortung. Diese Zielgruppe ist aber immerhin breiter als im Falle der vorurteilsbeladenen gesellschaftlichen Selektion. Unter den Wohlmeinenden und Gestaltungsgeneigten werden auch zahlreiche Angehörige sozial schwacher oder geringgeachteter Kreise sein, dafür ungeeignete Angehörige der sozial starken und allgemein gut angesehenen Kreise nicht.

Damit entfallen erbitterte Lagerstreitigkeiten innerhalb des Lagers der menschlichen Emanzipation oder zumindest der Willensfreiheit. Hingegen vertieft sich der Graben zwischen Fortschritt und Reaktion, Humanismus und Diktatur noch, aber das ist auch gut so, liebe Genossinnen und Genossen. Konzentrieren wir uns auf die Zukunft und auf das Licht, nicht auf die Dunkelheit!